Kinderschutz (nicht nur) in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Über 300 Teilnehmer*innen beim LPK-Online-Fachtag

(LPK BW)

Am 21.03.2024 fand der vom Ausschuss Psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen initiierte und organisierte Online-Fachtag zum Thema „Kinderschutz (nicht nur) in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ mit ca. 330 Teilnehmern statt. Anliegen dieses Fachtages war es, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und Psychotherapeut*innen für Kindeswohlgefährdungen und ihre Auswirkungen zu sensibilisieren und zur Sicherheit im Umgang damit beizutragen. Hierzu hatte der Ausschuss für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen drei Themenschwerpunkte ausgewählt:

  • Ein „Update“ über die Auswirkungen von Kindeswohlgefährdung auf die Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. 
  • Emotionale Formen der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, Schwierigkeiten der Grenzziehung und Interventionsmöglichkeiten in rechtlicher und psychotherapeutischer Hinsicht.
  • Kinderschutz aus Sicht einer „Insoweit erfahrenen Fachkraft“ mit Hinweisen auf Methodik und Verfahrensschritte und Haltung.

Prof. Heinz Kindler, Psychologe und Leiter des Fachbereichs Familienhilfe und Kinderschutz am Deutschen Jugendinstitut München, gab einen Überblick zur Definition von Kindeswohlgefährdung als Rechtsbegriff bezogen auf die Situation von Kindern und Jugendlichen und als Oberbegriff für alle Arten von Gefährdung (körperliche und psychische Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch). Er stellte Studien vor, in denen robuste Zusammenhänge zwischen erfahrener Gefährdung und psychischer Gesundheit gefunden wurden. In der derzeit größten Metaanalyse mit 11 Millionen einbezogenen Personen (Coughlan et al., 2022; Literaturangeben am Ende der Vortragsfolien) werden bei allen o.g. Gefährdungsformen und im gleichen Maße bei der oft übersehenen emotionalen Vernachlässigung in der frühen Kindheit Zusammenhänge zu externalisierenden und internalisierenden Störungen, zu Suizidalität, Suchtproblemen und anderen psychischen Problemen gefunden. Effekte finden sich auch im Bereich der somatischen Gesundheit (Norman et al., 2023 und „Nationale Kohorte“ Klinger-König et al., 2024). Schädigungen durch Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch zeigen sich v.a. in körperlichen Verletzungen, in einer allostatischen Last im Hinblick auf neuroanatomische Prozesse, d.h. das Gehirn braucht Energie für das Erkennen von Gefährdung, in der Beeinträchtigung selbstregulativer Fähigkeiten, in einem negativ verzerrten Selbstbild und negativen selbstevaluativen Gefühlen wie Scham, sowie in überlerntem, fehlangepasstem (Beziehungs-) Verhalten. Gefährdungserfahrungen haben Einfluss auf die Fähigkeit, sich Hilfe zu suchen. Es besteht ein erhöhtes Maß an Misstrauen nach Gefährdungserfahrungen. Im Hinblick auf die Versorgung gibt es v.a. für Kinder, die nach Gefährdung in Fremdbetreuung aufwachsen, eine gravierende therapeutische Unterversorgung, auch wenn auf der anderen Seite wichtige Fortschritte in den therapeutischen Behandlungsverfahren gemacht wurden. Prof. Kindler ging noch auf das gesetzlich vorgesehene Handeln bei aktuell gefährdeten Kindern und Jugendlichen ein (§4 KKG) und wies auf Möglichkeiten zum Einbringen therapeutischer Expertise in familiengerichtlichen Verfahren hin.

Mit einer Szene aus Kafkas Brief an den Vater leitete Prof. Miriam Rassenhofer, Dipl.-Psych. und KJP (VT) sowie Professorin im Bereich des Kinderschutzes an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm sowie am angegliederten Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin Baden-Württemberg, ihren Vortrag „Emotionale Formen der Kindesmisshandlung: Emotionale Vernachlässigung und psychische Misshandlung“ ein. Formen emotionaler Misshandlung können nach einer Definition der WHO (2022) sein, dem Kind/ Jugendlichen zu sagen, man wünsche, es sei nie geboren oder wäre tot, ihm zu sagen, es werde nicht geliebt oder verdiene nicht geliebt zu werden, ihm zu drohen es zu verletzen oder zu töten oder ihm zu sagen, es sei dumm oder nutzlos. Kategorien von emotionaler Misshandlung sind Ablehnung, Zurückweisung und verbale und nonverbale Entwertung, Ausnutzen und Bestechen, Terrorisieren, Isolieren, Missachten emotionaler Bedürfnisse und das Miterleben von Gewalt in der Familie. Statistisch wurden 2022 in Deutschland von 62 279 Fällen von Kindeswohlgefährdungen bei Mehrfachnennungen 59 % Vernachlässigung, 35 % Psychische Misshandlung, 27 % Körperliche Misshandlung und 5 % Sexuelle Gewalt erfasst (Statist. Bundesamt, 2024). Die Prävalenz von emotionaler Vernachlässigung wird im Dunkelfeld in Europa auf 18,6 % geschätzt. Prof. Rassenhofer erläuterte die Risikofaktoren für emotionale Misshandlung und Vernachlässigung auf der Ebene der Eltern, der Kinder und der Umwelt. Interessant ist der Befund, dass emotionale Misshandlung kein Schichtphänomen ist, Vernachlässigung jedoch mit niedrigem sozioökonomischem Status korreliert. Emotionale Misshandlung und Vernachlässigung haben nachteilige Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung und den Schulerfolg, negative Folgen auf sozialer und Verhaltensebene wie negative Auswirkungen auf Coping, mangelnde Emotionsregulierung und Umgang mit Emotionen, ein höheres Risiko für riskantes Sexualverhalten und ein höheres Risiko, im Erwachsenenalter Belästigung zu erleben (nicht Neinsagen können). Auch für körperliche Folgen werden erhöhte Risiken gesehen wie Asthma, Fehlgeburten, sexuell übertragbare Krankheiten, Übergewicht und Rauchen. Eine Vielzahl körperlicher Folgeprobleme zeigt sich erst im mittleren Erwachsenenalter. In psychischer Hinsicht findet sich eine Vielzahl an Folgen und Störungen, und hier sind die Risiken nach emotionaler Misshandlung höher als bei anderen Misshandlungsformen. Emotionale Misshandlung wird als starker Auslöser für psychiatrische Erkrankungen und ihre Symptomschwere gesehen. Auch im Kontext einer psychotherapeutischen Behandlung gilt das Primat der Sicherheit für das Kind. Interventionsmöglichkeiten ergeben sich aus dem abgestuften Vorgehen nach § 4 KKG bei gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung: 1. Prüfung der eigenen fachlichen Mittel zu Gefährdungsabschätzung und -abwehr.  2. Hinwirken auf aktive Inanspruchnahme von Hilfen durch die Sorgeberechtigten. Hilfreich hier ggfs. die Beratung durch eine „Insoweit erfahrene Fachkraft oder durch die medizinische Kinderschutzhotline (0800 19 210 00). 3. Mitteilung an das Jugendamt, wenn Tätigwerden dringend erforderlich ist und/oder Personensorgeberechtigte nicht in der Lage sind, an der Gefährdungsabschätzung oder Gefährdungsabwendung mitzuwirken. Hinweise auf störungsspezifische Behandlungsansätze und weiterführende Literatur rundeten den dichten Vortrag ab.

Dass die Arbeit im Kinderschutz trotz aller Belastungen Freude machen kann, vermittelte Volker Schuld, Dipl.-Psychologe, systemischer Familientherapeut und Traumatherapeut, Leiter des Kinderschutz-Zentrums Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis in seinem Vortrag mit grundlegenden Gedanken zum Kinderschutz aus Sicht einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“.  Da die Übergänge von Kindeswohl zu Kindeswohlgefährdung fließend sind, sollte die klassische Frage im Kinderschutz „Ab wann muss ich etwas tun?“ ersetzt werden durch die Frage: „Was kann ich tun?“. Dies bedeutet, dass in Fällen von Kindeswohlgefährdung zunächst häufig Unsicherheiten und Nichtwissen ausgehalten werden müssen. Auch wenn Volker Schuld seinen Folien mit grundlegenden Gedanken zum Kinderschutz die Warnung vorausschickte, dass sie nur mit einer begleitenden Erklärung des Referenten gelesen werden sollten, sollen sie hier in ihrer eindrücklichen Prägnanz wiedergegeben werden: „Kein Fall ist wie der andere“. „Kinderschutz gelingt nur in Kooperation (mit Kind/Jugendlichem, Eltern, Institutionen, einer „insofern erfahrenen Fachkraft…“).“ Folgende Haltungen sind neben Methoden und Kenntnissen Voraussetzung für einen gelingenden Kinderschutz: „Defizite und Gefährdungen wahrnehmen (nicht auf die Jagd gehen, aber wach sein), ebenso „Ressourcen und den Blick weit halten.“ „Kinder reden nicht mit Deppen! Es ist immer ein Kompliment und eine Ehre, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher mir etwas anvertraut. Diese vertrauensvolle Beziehung sollte das Ziel sein, daher sollte der Rahmen so gestaltet sein, dass Vertrauen möglich ist.“ „Plädoyer für das komische Bauchgefühl. Das Bauchgefühl als Summe aller diagnostischen Fähigkeiten ernst nehmen.“ „Fachberatung gerne frühzeitig in Anspruch nehmen“. „Dokumentation ist wichtig“. „Ziel eines Kinderschutzfalles ist nicht die Gefährdungsmeldung beim Jugendamt. Ziel ist die Abwendung von Kindeswohlgefährdung. Kinder sollen sicher sein.“ „Die Schweigepflicht ist ein hohes Gut. Ein vertraulicher Rahmen wichtige Basis. Aber es gibt Grenzen. Werden diese nach unserer Einschätzung überschritten, kann eine Gefährdungsmeldung notwendig sein. Den Patient*innen keine Verschwiegenheit versprechen.“ „Sagen was man denkt, Rahmen setzen, transparent sein. Kind/Jugendlichen einbeziehen: ‘Du erfährst, was passiert‘.“ „Metakommunikation als Möglichkeit im Kontakt mit Kind und Eltern.“

Im von Michaela Willhauck-Fojkar freundlich und umsichtig moderierten Chat hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit Fragen zu den inhaltlich dichten Vorträgen zu stellen. Aufgrund der begrenzten Zeit konnten diese nicht alle beantwortet werden. Daher wird sich der Ausschuss für die psychotherapeutische Versorgung weiter mit der Thematik befassen. Die erfreulich große Zahl der Teilnehmer*innen an der Fortbildung zeigte, dass die Thematik im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie immer stärkere Aufmerksamkeit erhält.

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